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Rezept der echten Kalbsvögerl nach Auguste Escoffier (Le Guide culinaire, 1903)
Rezept der echten Kalbsvögerl nach Auguste Escoffier
(Le Guide culinaire, 1903)
Ursprung der Kalbsvögerl
Die Kalbsvögerl ist ein großer Klassiker der französischen Küche, oft verbunden mit dem bürgerlichen gastronomischen Erbe. Ihr Name stammt von der „weißen“ Farbe der Sauce, die aus Brühe, Butter, Sahne und Mehl besteht, ohne Anbraten.
Historischer Ursprung
17. Jahrhundert: Erste Erwähnungen der Kalbsvögerl als Gericht aus Bratenresten vom Kalb, kalt serviert mit weißer Sauce.
18. Jahrhundert: In einigen Kochbüchern beginnt man, das Fleisch zu pochieren, anstatt vorgekochtes Fleisch zu verwenden, die Sauce bleibt jedoch weiß, gebunden mit Mehl und Butter.
19. Jahrhundert: Das Rezept entwickelt sich zu einem direkt gekochten Ragout, kein Resteverwertung mehr. Zu dieser Zeit wird es, wie wir es heute kennen: ein Ragout ohne Fleischanbraten.
Auguste Escoffier (Ende 19. – Anfang 20. Jahrhundert) kodifiziert das Rezept im Le Guide culinaire und verleiht dieser delikaten Zubereitung einen hohen Stellenwert.
Auguste Escoffier – Le Guide culinaire (1903)
Die maßgebliche Referenz für die Kodifizierung großer Klassiker der französischen Küche.
Escoffier schlägt eine klassische Kalbsvögerl vor, bei der das Fleisch ohne Anbraten im Wasser gegart wird, mit einer Sauce, die mit weißem Roux, anschließend mit Sahne und Eigelb gebunden wird.
Er betont, dass das Fleisch nicht angebraten wird und dass die Sauce schön weiß sein soll.
Er unterscheidet außerdem die „alte“ (rustikalere) von der „modernen“ (klareren) Blanquette.
1. Kalbsvögerl nach Auguste Escoffier
(Le Guide culinaire, 1903)
Zutaten (für 4 Personen)
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1,5 kg Kalbsstücke: Brust, Schulter, Halsrippen
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1 Zwiebel mit Nelken gespickt
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Bouquet garni (Thymian, Lorbeer, Petersilie)
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30 g Butter
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30 g Mehl
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20 cl frische Sahne
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1 Eigelb
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Zitronensaft, Salz, Pfeffer
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Champignons und Perlzwiebeln separat
Zubereitung
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Das Fleisch in kaltem Wasser aufsetzen und langsam zum Kochen bringen, dabei abschäumen. Die gespickte Zwiebel, das Bouquet garni und die Karotte dazugeben. 1,5 bis 2 Stunden bei sehr kleiner Hitze ohne Bräunung köcheln lassen.
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Das Fleisch herausnehmen, die Brühe abseihen.
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Die Beilagen separat in Butter garen: Champignons und Perlzwiebeln.
1.1 Weiß gegarte Champignons
(englische oder weiße Dünstmethode)
Zutaten
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250 g kleine oder mittelgroße Champignons
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1 EL Zitronensaft
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20 g Butter
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1 Prise Salz
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Wasser zum Bedecken
Zubereitung
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Die Champignons putzen und ggf. schneiden.
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In einen Topf geben mit: Butter, Zitronensaft (verhindert Bräunung), Salz und Wasser bis zum Bedecken.
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Mit gebuttertem Backpapier oder Deckel abdecken, um Verdunstung zu minimieren.
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Sanft zum Kochen bringen und 5–10 Minuten bei kleiner Hitze dünsten, bis die Champignons zart und weiß sind.
1.2 Perlzwiebeln weiß glasiert
Zutaten
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200 g geschälte Perlzwiebeln
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20 g Butter
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1 Prise Zucker
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1 Prise Salz
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Wasser zum Bedecken
Zubereitung
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Die Perlzwiebeln in eine Pfanne geben.
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Butter, Zucker (für Glanz), Salz und Wasser hinzufügen.
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Sanft zum Kochen bringen.
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Mit gebuttertem Backpapier oder Deckel abdecken.
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Bei kleiner Hitze glasieren lassen: Das Wasser verdunstet langsam, die Zwiebeln kochen in Butter und Zucker und werden glänzend, zart und weiß ohne Bräunung.
Ziel
Diese Techniken bewahren die weiße Farbe und die optische Feinheit des Gerichts. Sie entsprechen der Philosophie der Blanquette: ein weißes Ragout ohne Anbraten, mit sanften und eleganten Beilagen.
Abschluss der Escoffier-Rezeptur
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Einen weißen Roux herstellen (Butter + Mehl ohne Bräunung), mit Brühe ablöschen und rühren, bis die Sauce bindet.
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Sahne hinzufügen. Vom Herd nehmen und das mit etwas Sauce verdünnte Eigelb einrühren (Pariser Bindung).
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Fleisch und Beilagen zugeben, vorsichtig erwärmen (nicht kochen), mit Zitronensaft abschmecken.
Anmerkung: Escoffier empfiehlt Nudeln als Beilage, aber auch Reis oder Kartoffeln passen.
2. Kalbsvögerl nach Urbain Dubois & Émile Bernard
(La Cuisine classique, 1856)
Zutaten
(Ungefähr nach deren Angaben)
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Dieselben Kalbsstücke wie bei Escoffier
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Gespickte Zwiebel, Karotte, Bouquet garni
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Brühe oder aromatisiertes Wasser
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Beilagen: Champignons, Perlzwiebeln
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Zum Binden: Weißer Roux oder Sahne + Eigelb
Besonderheit
Dubois & Bernard legen die Grundprinzipien fest, ohne genaue Mengen anzugeben, und betonen das weiße Ragout und die traditionellen Beilagen.
Kurzer Vergleich
Gemeinsame Beilagen beider Versionen
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Perlzwiebeln weiß glasiert
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Champignons weiß gegart
Diese zwei gelten heute als klassische Blanquette-Beilagen und sind in beiden Kochschulen präsent.
Wesentliche Unterschiede
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Escoffier (Le Guide culinaire, 1903):
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Kodifiziert eine „alte“ Kalbsvögerl mit schlichter Garnitur: nur Champignons und Perlzwiebeln.
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Seine Version ist raffiniert, klar und standardisiert, entsprechend der Brigade-Küche.
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Er lehnt überladene Garnituren ab, die die Weißheit und Balance des Gerichts stören.
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Dubois & Bernard (La Cuisine classique, 1856):
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Erwähnen in einigen Varianten „finanzielle Garnituren“, darunter:
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Trüffel (saisonal)
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Kalbsbries
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Hahnenkämme und Nieren
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Lammzunge oder Gehirn
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Diese Garnituren waren typisch für die Haute Cuisine des Zweiten Kaiserreichs und den damals populären „Service à la russe“.
Der „Service à la russe“
Der „Service à la russe“ ist eine Art, Mahlzeiten einzeln in einer bestimmten Reihenfolge serviert werden, eingeführt im 19. Jahrhundert in Frankreich, als Ersatz für den „Service à la française“.
Hauptmerkmale:
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Mehrere aufeinanderfolgende Gänge, jeweils ein Gerichtstyp (Suppe, Fisch, Fleisch, etc.)
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Warm serviert auf idealer Temperatur
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Einzelportionen vom Personal serviert
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Sorgfältige und organisierte Präsentation
Verwendung der Karotte in der Kalbsvögerl
Bei Escoffier:
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Karotte ist optional.
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Kann für eine leichte Süße und feines Aroma im Fond hinzugefügt werden.
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Bevorzugt wird jedoch, sie wegzulassen, um optische und geschmackliche Reinheit zu bewahren; wenn verwendet, ganz und ohne Bräunung gekocht.
Bei Dubois & Bernard:
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Karotte gehört zur klassischen Aromatik und wird immer in der Fleischgarung verwendet.
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Sie verleiht dem Fond einen ausgeprägteren, runden süßen Geschmack.
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Die Karotte wird ganz in den Topf gelegt, um zu aromatisieren ohne das Gericht zu trüben.
Berühmte Persönlichkeiten und Kalbsvögerl
Viele berühmte Persönlichkeiten drückten ihre Liebe oder Verbundenheit mit der Kalbsvögerl aus, besonders im 19. und 20. Jahrhundert, als sie vom Familiengericht zum bürgerlichen und sogar präsidentiellen Essen wurde:
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Raymond Poincaré (französischer Präsident 1913–1920)
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Paul Bocuse (20. Jh. Küchenchef)
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Georges Simenon (Schriftsteller, Schöpfer von Maigret)
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François Mitterrand (französischer Präsident)
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Jean-Pierre Coffe (Verfechter der ehrlichen, einfachen und raffinierten Hausmannskost)
Kulturelle Anekdote
Im Film Les Tontons Flingueurs (1963) werden Familienküche und Schmorgerichte wie die Kalbsvögerl in köstlichen Dialogen erwähnt und verankern dieses Gericht in der französischen Populärkultur des 20. Jahrhunderts.